Eine Geschichte aus 1001 Nacht
Eines Tages ging der Kalin Harun ar-Raschid mit seinem Wazir Dschaafar am Ufer des Tigris spazieren. Da sahen sie einen großen, prachtvollen Korb, der ans Ufer getrieben worden war. Doch als sie den Korb öffneten, war ihr Entsetzen groß. Denn darin lag die zerstückelte Leiche einer wunderschönen Frau.
Harun ar-Raschid war voller Zorn und befahl Dschaafar: „Bringe mir den Mörder! Wenn er in drei Tagen nicht am Galgen hängt, werde ich dich an seiner Stelle aufknüpfen lassen – zusammen mit 40 deiner Familienangehörigen!“
Das erfüllte Dschaafar mit großer Furcht. Er ließ überall nach der schönen jungen Frau fragen, aber niemand konnte im Informationen zum Tod des Mädchens geben. Nach drei Tagen wurden er und seine Familienangehörigen von den Schergen des Kalifen ergriffen und zum Galgen geführt.
Der Henker legte Dschaafar und seinen Anverwandten schon die Schlinge um den Hals, da ertönte eine helle Stimme aus der Menge:
„Verschont ihn! Denn ich bin der Mörder! Ich habe sie umgebracht!“
„Nein!“ rief ein alter Mann und schob sich durch die Menge nach vorne. „Glaubt diesem jungen Mann kein Wort! Denn ich war es! Ich bin der Mörder!“
„Nein, Onkel!“ rief daraufhin der junge Mann aus. „Ich war es! Ich ganz allein habe sie ermordet!“
„Du bist noch jung, Sohn“, sagte der alte Mann. „Lass mich deswegen an deiner Stelle sterben.“ Und an den Kalifen gewandt, bekräftigte er: „Ich war es! Ich bin der Mörder!“
Dschaafar und der Kalif waren gleichermaßen verwirrt. „Erzähl deine Geschichte!“ befahl der Kalif. Und der junge Mann fing an zu erzählen.
Die Geschichte des jungen Mannes
„Ich habe eine wunderschöne, edle und herzensgute Frau geheiratet, die ich von Herzen liebe und die gleichzeitig meine Cousine ist. Der alte Mann dort ist also mein Onkel und ihr Vater. Drei Kinder hat sie mir geboren. Aber vor einigen Wochen wurde sie schrecklich krank. Das einzige, von dem sie sich Linderung versprach, war der Geruch von Äpfeln. Also zog ich los, um Äpfel zu kaufen. Doch in ganz Baghdad waren keine zu finden! Deswegen reiste ich durch das Land. Erst in Basra gelang es mir, drei goldene Äpfel zu erwerben. Diese stammten aus dem Palast des Sultans und haben mich drei Dinar gekostet. Also brachte ich die Äpfel zu meiner Frau und legte sie neben sie.
Als ich drei Tage später in der Stadt unterwegs war, sehe ich einen großen schwarzer Sklaven, der einen herrlichen goldenen Apfel in der Hand hielt – unzweifelhaft einer der Äpfel, die ich meiner Frau geschenkt hatte! Erregt fragte ich den Sklaven nach der Herkunft.
„Meine Geliebte ist die Frau eines reichen und einfältigen Kaufmanns“, grinste der Sklave. „Sie hat vorgegeben, krank zu sein, um mehr Zeit mit mir verbringen zu können. Ihren Mann schickte sie los, Äpfel zu kaufen, weil das allein Linderung versprach. Als er zurück kehrte, brachte er tatsächlich drei Äpfel mit. Einen davon hat meine Geliebte mir geschenkt.“
Erbost und voller Eifersucht lief ich nach Hause. Auf dem Nachttisch lagen nur zwei Äpfel!“
„Wo ist der dritte Apfel?“ fragte ich meine Frau. „Ich weiß es nicht“, sagte sie leise. Da ahnte ich, dass der Sklave die Wahrheit gesagt hatte. Ich nahm ein Messer und erstach meine Frau. Dann nahm ich ihre Leiche, zerstückelte sie, steckte sie in einen Korb und warf sie in den Fluss, wo ihr sie gefunden habt.
Doch als ich nach Hause zurückkam, stand plötzlich mein Sohn mit rotverweinten Augen vor mir und flüsterte: „Ich bitte um Vergebung, Vater. Ich habe etwas schlimmes angestellt. Ich habe heute einen von Mutters Äpfeln genommen und damit auf der Straße gespielt. Doch da kam plötzlich ein großer schwarzer Sklave und hat mir den Apfel entrissen! Ich habe verzweifelt versucht, den Apfel zurückzubekommen. Doch er war zu groß und zu stark, hat mich geschlagen und ist mit dem Apfel verschwunden! Ich habe bis zum Einbruch der Dunkelheit nach dem Sklaven und dem Apfel gesucht, konnte aber keine Spur von ihnen entdecken! Und nun ist auch Mutter nicht zu Hause!“
Ich sank totenbleich zu Boden. In meiner wahnsinnigen Eifersucht habe ich meine liebe Frau völlig grundlos getötet! Ich habe meinem Onkel, ihrem Vater alles gebeichtet. Gemeinsam haben wir drei Tage lang die Totenklage abgehalten. Ich habe meine Frau von Herzen geliebt und möchte ohne sie nicht mehr weiterleben. Deswegen hängt mich!“ Der Kalif war sehr erstaunt über die Geschichte. „Dschaafar!“ rief er aus. „Der schwarze Sklave hat Unglück über die Familie dieses jungen Mannes gebracht. Geh und finde ihn, damit er gehängt werde. Sollte dies dir in drei Tagen nicht gelingen, so wirst du an seiner Stelle gehängt.“
Der Kalif begnadigte den jungen Mann und seinen Onkel. Dschaafar aber schlich trübsinnig und verzweifelt nach Hause zurück. Wo sollte er nur den schwarzen Sklaven finden? In seinem Kummer beschloss er, sein Leben in Gottes Hand zu geben und einfach abzuwarten. Zwei Tage wartete er, aber nichts geschah. Am dritten Tage rief er den Kadi, um sein Testament aufzusetzen. Dann verabschiedete er sich von seinen Söhnen, Töchtern und Anverwandten. Als er seine jüngste Tochter an sich drückte, bemerkte er etwas Rundes in einer ihrer Taschen. „Was hast du da in deiner Tasche?“ fragte er erstaunt.
„Einen Apfel“, erklärte das Mädchen und zog einen goldenen, duftenden Apfel aus ihrem Gewand hervor. „Woher hast du ihn?“ rief Dschaafar überrascht.
„Einer unserer Sklaven, Raihan, hat ihn mir gebracht. Ich musste ihm dafür zwei Golddinar zahlen!“ erklärte das Mädchen arglos.
Dschaafar ließ sofort nach Raihan rufen.
Woher hast du diesen Apfel?“ fragte er den Sklaven streng.
„Herr, ich habe den Apfel nicht gestohlen!“ versicherte der Sklave ihm. „Vor vier Tagen sah ich einen Jungen auf der Straße spielen. Dabei ist ihm der Apfel heruntergefallen. Ich habe ihn aufgehoben. Der Junge erzählte, dass der Apfel seiner kranken Mutter gehört und er ihn unbedingt wiederhaben wollte. Doch ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben, den Apfel mitgenommen und Eurer Tochter gegen zwei Dinare verkauft.“
Dschaafar war überrascht, dass es sich bei dem Anstifter dieses Unheils um seinen eigenen Sklaven gehandelt hatte. Er nahm den Sklaven an der Hand und brachte ihn zum Kalifen Harun ar-Raschid. Dieser wunderte sich sehr über die Verkettung all dieser unglückseliger Umstände und begnadigte Dschaafar.